"Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muss, bis sie kurz ist." Vicente Aleixandre

Es ist jedes Jahr dasselbe Spiel auch mit Blick auf die Zentralen Abschlussprüfungen zum Ende der Einführungsphase: auf dem Lehrplan Deutsch steht die Auseinadersetzung mit Kurzgeschichten an. Analysieren können die Schüler dann. Aber was passiert, wenn sie mal selber schreiben? Lesen und Staunen!

Madita Reimann: Kälte (2013)

Sie ist kalt. Seit Jahren ist sie kalt. Die Heizung. das von Spinnenweben verdeckte Thermostat steht auf fünf. Die einst rote Farbe lässt sich nur noch an einigen Stellen erahnen. Der Rest der Heizung ist grau. Grau. Was eine kalte Farbe. Er geht an ihr vorbei, beachtet sie nicht. Er hat sie schon vor langer Zeit aufgegeben. Ein dicker Pulli bedeckt seitdem seinen Körper. Doch es ist kalt. Trotz des Pullis ist ihm kalt. Es ist nicht die gleiche Wärme, Er könnte sie ersetzen. Aber dies würde er nie über sich bringen. Sie bedeutet ihm viel zu viel. Nachts legt er sich in sein einsames Doppelbett und bedeckt sich mit drei Decken.

 

Sebastian Wolf: Nachtschwarze Straßenbahn (2013)

In der städtischen Straßenbahn saß einmal ein Mann höheren Alters und streichelte, freundlich dreinblickend, seinen ergrauten Backenbart. So sitze ich in meinem schwarzen Mantel am Fenster, auf dem zerschlissenen Sitz und zähle Schafe. Ziehe meinen schwarzen Zylinder zu recht. Nachtschöne Schwärze schwindet schweigsam. Schwäche. So bin ich wieder in der Straßenbahn, die 107. Jeden Tag dieselbe Route, doch heute steige ich früher aus. Früher aus. Früher. Betrachte diesen jungen Burschen und seine Freundin, sie... führen wohl eine Beziehung. Sie lacht glücklich und freut sich über irgendetwas. Irgendetwas. Er weint, er weint so stark. Seine Wangen werden geziert vom glitzernden Fluss der Traurigkeit. Doch zeigt er keine Träne. Die Witwe ebenso. Woher ich weiß, dass sie ihren Mann verloren und eine schmerzhafte Zeit der Depression hinter sich zu lassen versucht, fragst du dich? Nachtschöne Schwäre schwendet schweigsam. Schmerz. Es wird Zeit. Die Nächste steige ich aus. Ich sollte aufstehen, es ist ja gerade rot. Die Ampel springt auf grün und der junge Bursche fragt, ob er helfen kann, es wäre ja gerade grün. Nein, nein, nein! Lass mich in Ruhe! Ich schaffe das schon. Ich drücke auf den Stoppknopf und sehe, wie der Junge ebenfalls auf den Knopf drückt. Die Haltestelle rauscht an uns vorbei. Ich höre, wie sich die Leute um mich herum aufregen, dass die Bahn nicht gehalten hat, doch... ich setze mich zurück auf meinen Platz. Schweige. Zeit vergeht. Nachtschöne Schwärze schwindet schweigsam. Schwindet. Endstation. Der Bursche weint, weint. Die Freundin lacht aus tiefster Seele, hatte die ganze Fahrt gelacht, wie noch nie. Die Träne fällt zu Boden, die massiven Türen der Straßenbahn öffnen sich. In der städtischen Straßenbahn saß einmal ein Mann höheren Alters und streichelte, friedlich dreinblickend, seinen ergrauten Backenbart.

 

Marcel Sönmez: Alles unter einem Dach (2013)

Mittag. Endlich Pause. Er schaut aus dem Fenster. Ihm fällt die baufällige und verlassene Lagerhalle auf. Schon März und immer noch schneit es. Von allen Richtungen. Der meiste Schnee liegt auf dem Dach der alten Lagerhalle. Er fragt sich, was die Kinder wohl in diesem Moment so anstellen. Die Pause ist schon fast wieder vorbei. Gleich fängt es wieder an auf das Dach zu schneien. Wie viel Schnee kann das Dach noch ertragen, ehe es zusammenbricht? Wie lange es wohl noch dauern wird, bis die Sonne das Dach von der Last des Schnees erlöst? Bis ihm die Last von den Schultern genommen wird? Er dachte, er schafft alles allein. Sein Stolz hat ihn wohl erblinden lassen. Jetzt da sie weg ist, bemerkt er den Schnee auf dem Dach. Wann sie zurückkehrt ist ungewiss. „Da können sie hinstarren, wo sie wollen, von der Sonne ist nichts zu sehen.“ Sein Vorgesetzter hat ihm seine Gedankengänge unterbrochen. „Falls sie danach gesucht haben, wäre das ja jetzt geklärt, oder? Die Mittagspause ist jedenfalls zu Ende. An die Arbeit!“… Und wieder fängt es an zu schneien.

 

Kirsty Waschke und Vanessa Schröder: Verdrehte Zeit (2013)

Er sitzt am Schreibtisch. Vor ihm steht eine alte Schreibmaschine, neben ihm ein Stapel Papier. Das Stempelkissen der Maschine weist nur noch ein paar Flecken von Tinte auf. Er tippt: „Meine Geliebte, die unausgesprochenen Dinge können nicht weiterhin auf sich selbst beruhen“, mithilfe der Tasten ein. Er entfernt sich vom Schreibtisch und fährt mit den Händen über sein Gesicht durch die Haare. Sein Blick schweift durch das Zimmer. Neben dem Mülleimer liegen zusammengeknüllte und zerrissene Papiere. Er läuft an der warmen Heizung vorbei, zu seinem Fenster. Auf seiner Fensterbank steht ein Foto. Von ihr und ihm. Er nimmt es hoch, um es näher betrachten zu können. Sie hat es ihm zu Weihnachten geschenkt. Das Bild ist mit einer leichten Staubschicht überzogen. Er sieht, wie sich ihre beiden Blicke treffen. Ein Stechen in seiner Brust. Er stellt das Foto wieder auf die Fensterbank. Er schaut aus dem kleinen Fenster. Es ist Anfang März. Eine Winterlandschaft zeigt ihr weißes Antlitz über die Umgebung verteilt. Ein Baum fällt ihm besonders ins Auge. Gelbe Blüten trägt er – obwohl der Frühling noch gar nicht begonnen hat. Bei genauerer Betrachtung erkennt er, dass nur vereinzelt über die Äste die gelben Blüten verteilt sind. Seine Augen werden weit. Nachdem er sich zu dem Mülleimer begeben und seine Fehlschläge ordentlich beseitigt hat, setzt er sich an den Schreibtisch und beginnt mit seinen Fingern die Tasten zu bedienen.

 

Steffen Borgert: Schneekrone (2013)

Sie gehen durch den Park. Hand in Hand. Das erste Mal. Nach einer Ewigkeit gehen sie das erste Mal wieder Hand in Hand durch den Park. Die Mischung aus Schnee und Salz knirscht unter ihren Füßen. Sein Blick ist auf Unendlichkeit fokussiert, sie sieht alles nur ihn nicht. Er hält ihre Hand. Aber nicht, um sie zu wärmen, denn sie tragen Handschuhe. Plötzlich bleibt sie stehen. Sie sieht ihn. Er schaut unter dem Schnee hervor. Sie fragt sich, wie er dort hinkommt, wo doch Schnee liegt. Der blaue Krokus, nicht entfaltet. Dann fällt es ihr wieder ein. In der letzten Woche war es Frühling geworden. Er hatte die Gunst der Stunde ergriffen. Wollte der erste sein. Sich von der Masse abheben und auffallen. Denen Freude bereiten, die sich an ihm erfreuen wollten. Sieh mal, der erste Krokus, wollte er hören. Jetzt stand er da in einem Bett aus Schnee. Mit seiner Krone aus Schnee. Und er fror. Von oben nach unten und von unten nach oben. Bis sich der Frost trifft und ihn erfrieren lässt. Die ersten Blätter ergraut, die ersten Frostflecken am Stängel. Wieso bleiben wir stehen, will er wissen. Er folgt nicht ihrem Blick, sieht nicht, was sie sieht. Lass uns weiter, mir ist kalt. Langsam dreht sie sich zu ihm um. Will seine Hand abstreifen um zum Krokus zu gehen, doch kann ihn nicht loslassen. Ein andermal, denkt sie sich. Mögen Stängel und Blüte auch erfrieren, er wird wieder wachsen. Denn die Zwiebel bleibt von der Kälte verschont.

 

Momo Yakubi und Marie Kaiser: Die Radiergummifussel (2013)

Alles still. alles bewegt sich leblos. Alles ist gewöhnlich fremd. Die Tür steht noch offen, schließen will ich sie nicht. Ich sitze auf deinem Platz. Schaue auf die Uhr. Schaue auf die Zeitung, auf das Datum. Schaue auf dene Notiz. Zwei, dreimal. Verpätete Zeit. Schaue auf den Radiergummi. Seine Farben sind verblasst, von all dem Schein und Lügen. Er liegt bloß noch reglos dar, ohne Sinn und Zweck. Als hätt's man gewusst. Verstaubte Reste von seiner Form, einem endlosen Kreis. Deine Funktion ist aufgebraucht, Ziele hast du nicht erricht, Wünsche nicht erfüllt und Hoffnung zerbrochen. Dich wiederzubeleben scheitert. Draußen hört man den letzten Zug abfahren. Ich bin hier und wo bist du? Und radiere den Schriftzug "Ich bin weg".

 

Max Enders, Henry Hartmann, Hamit Sanli, Edin Özmen, Leon Schmidt: Alle in eine Schachtel (2013)

Ich sitze draußen. Es ist kalt. Ich sehe die warme Luft vor meinen Augen, wenn ich ausatme. Meine Freunde isnd in der Kneipe. Ich bin allein. Aber ich genieße es in vollen Zügen wie ein Bahnfahrer. Meine Freundin ist zu Hause. Sie sprüht wahrscheinlich wieder Deo. Ich bin allein. meinem Arzt vergeht auch langsam das Grinsen. Erster des Monats. Fünf Euro abgebucht. Wie immer. Wir werden alle in eine Schachtel gesteckt. Doch sind trotzdem allein. Kein Stress oder keine Langeweile. Sie sind ahnungslos. Dennoch reden sie. Meine Hand geht zum Mund. Automatisiert. Der Genuss beginnt. Der Rauch steigt auf. Ich denke, ich nehme den letzten Zug. Aber dafür ist es zu spät. Ich drücke sie aus. Doch nicht zu fest. Ein zarter Abschied, doch kein Lebewohl. Schon zünde ich die nächste an. Zigaretten sind teuer. In jeder Hinsicht.

 

Joshua Multhaup: Schneemasse (2013)

Er findet sie schön, doch er sagt nichts. Sie fällt, doch er macht nichts. Sie bleibt liegen und er hilft nicht. Sie verschwindet in der Masse, doch er läuft ihr nicht hinterher. Schneeflockeneinzigartigkeit. er geht ins Büro. Setzt sich an seinen Platz. Der Computer neben ihm. Der Gleiche wie im Büro nebenan. Ein Mann im Büro nebenan. Ihm sehr ähnlich. Sie treffen sich beim Rausgehen. Eine Flocke denkt, ein Zwilling? Der Mann steigt ein. Zwei Schneeflocken auf der Scheibe. Er denkt, ein Zwilling? Der Mann. Die Schneeflocke.

 

Kirsten Walter, Laura Albertz: Zeit (2013)

Der Bus kommt um 12:01 Uhr. Sie sitzt an der Bushaltestelle. Er sitzt so dicht bei ihr, dass sich ihre Beine berühren. Als sie merkt, dass ihre Wangen rot anlaufen, rutscht sie ein stück zur Seite. Es ist einfach zu warm für Körperkontakt. Sie spürt seinen Blick auf ihr ruhen. Wer sich gerade unwohler fühlt weiß sie nicht genau, glaubt aber ihr selbst ist das alles peinlicher. Sie kramt ihr Handy aus ihrer Tasche hervor. Es ist 11:55 Uhr. Das schwarz-weiße Hintergrundbild verblasst durch die Sonnenstrahlen, doch sie kennt es gut genug, um zu wissen, was es abbildet. Ein Lächeln schleicht über ihre Lippen. Sie wünscht sich, dass sie wieder glücklich sein könne, zusammen. So wie auf dem Bild. er legt seine Hand auf ihr Bein. Die Berührung schmerzt wie Feuer, aber sie wehrt sich nicht. Kurz denkt sie darüber nach, was wäre, wenn sie jetzt aufspringen würde, um ihn anzuschreien. Den Gedanken verwirft sie schnell, viel zu viele Zuschauer. Die Hand greift nicht zu, streichelt nicht, sie liegt nur so da auf ihrem Bein.  Sie spürt durch die Hose, wie feucht seine Hände sind. Ihr Mundwinkel ziehen sich zusammen. Ekel steigt in ihr auf, sie will nicht berührt werden. Sie dreht ihren Kopf leicht zu ihm und beobachtet ihn aus dem Augenwinkel. Er schaut geradeaus, nur seinen einen Arm strckt er von sich weg. Sein Blcik ist starr. Er denkt nach, das weiß sie. Sie will etwas sage, legt sich die Wörter zurecht, welche aber doch auf ihrer Zunge liegen bleiben. Sie kann den Mund nicht öffnen. Nicht, wenn seine Hand auf ihrem Bein liegt. Sie schaut erneut auf ihr Handy. Es zeigt immer noch dasselbe Bild: Sie und Jonas. Dieses Mal muss sie nicht lächeln. Er schaut zu ihr rüber, abber sie erwidert nichts, weder seinen Blick noch seine Berührung. Er macht ihr Angst, mehr nicht. Eine halbe Ewigkeit muss vergangen sein, glaubt sie, als der Bus endlich vor ihnen hält. Endlich löst sich seine Hand von ihrem Bein,s ie steht auf und geht zum Bus. Kurz bevor sie einsteigt, dreht sie sich zu ihm um und beobachtet seinen Gang, während er auf sie zukommt. Sie zuckt zusammen, bleibt aber trotzdem stehen. Jonas drückt ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen und verschwindet. Es ist 11:55 Uhr.

 

Sarah Clef, Nisa Hamurcu, Wendy Nikolaizik, Sabrina März, Sarah Ernst: Der metallisch blaue Mülleimer (2013)

Sie sitzt da, mit Tränen in den Augen, starrt darauf. Damals waren sie noch glücklich. Sie blickt um sich, überall benutzte Taschentücher, manche älter als die anderen. Die ganzen Erinnerungen an früher, überall sein Geruch. Ihr Blick bleibt an dem metallisch blauen Mülleimer hängen. In ihm spiegelt sich das flackernde Kerzenlicht. Sie blickt auf die Tschentücher, dann auf den Mülleimer. Schließlich steht sie auf, sammelt die Taschentücher ein und wirft sie in den metallisch blauen Mülleimer. Eine Träne rollt ihr über die Wange. Sie sammelt die Erinnerungen ein und wirft sie in den metallisch blauen Mülleimer. Sie wirft sie weg. Einfach weg. Sei wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Nun packt sie den blauen Müllbeutel, schnürt ihn fest zu. Als sie auf dem WEg nach draußen ist, wirft sie noch einen Blick zurück uns eiht hinter sich eine Spur aus Taschentüchern und Bildern. Dann erblickt sie das Loch im Müllbeutel. Mal wieder wurde ihr Vertrauen missbraucht.

 

Michelle Kretzer: Abstand (2013)

Es ist Morgen. Stille. Unergründliche Stille. Ein Mädchen. Sie läuft, langsam. Sie scheint jemanden zu suchen. Ein junger Mann läuft um die Ecke. Ein Lächeln. Sie kommen aufeinander zu. Die beiden küssen sich. "Es wird Zeit!", sagt sie und nimmt sien Hand. Es fängt an zu regnen. Kein Nieselregen, es ist ein starker Regen, der auf einen Sturm hindeutet. Ihre Augen brenen vor Verlangen. Ihre Lippen nähern sich. Ein Blitz erhellt den Himmel. Es ist kein kurzer Kuss. Die Tränen vermischen sich mit dem Rege. Sie nimmt Abstand, dreht sich um und flüstert: "Ich liebe dich." Sie läuft zum Auto. Kurz bevor sie einsteigt, dreht sie sich ein letztes Mal um. Sie weiß, sie wird ihn nie wieder sehen. Sie steigt ein und das Auto fährt ind em stürmenden Regen davon. Sie wacht schweißgebadet in ihrem Bett auf. "Es wird Zeit!", sagt die Mutter und lässt ihre Tochter im gepackten Zimmer zurück.